Der Zusatzpflichtteil, auch als Restpflichtteil oder Pflichtteilsrestanspruch bekannt, ist ein oft übersehener, aber entscheidender Anspruch im deutschen Erbrecht. Er betrifft pflichtteilsberechtigte Erben, die in einem Testament oder Erbvertrag weniger als die Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils erhalten haben. Trotz seiner Bedeutung ist dieser Anspruch vielen Menschen unbekannt, was zu Missverständnissen und rechtlichen Nachteilen führen kann. In diesem Ratgeber erkläre ich Ihnen, was der Zusatzpflichtteil ist, wie er berechnet wird und wann Sie ihn geltend machen können.
Was ist der Zusatzpflichtteil?
Der Zusatzpflichtteil ist ein Anspruch auf Geldzahlung, der einem pflichtteilsberechtigten Erben zusteht, wenn er durch ein Testament oder einen Erbvertrag weniger als die Hälfte seines gesetzlichen Erbteils erhält. Das Pflichtteilsrecht zielt darauf ab, nahen Angehörigen des Erblassers, wie Kindern, Ehegatten oder Eltern, eine Mindestbeteiligung am Nachlass zu garantieren. Der Zusatzpflichtteil stellt sicher, dass ein pflichtteilsberechtigter Erbe nicht schlechter gestellt wird als ein komplett enterbter Erbe, sondern zumindest den Wert seines Pflichtteils erhält.
Beispiel 1: Der unzureichend bedachte Erbe
Stellen Sie sich vor, ein verwitweter Erblasser setzt in seinem Testament seine Tochter T zu 90 % und seinen Sohn S zu 10 % als Erben ein. S hätte nach der gesetzlichen Erbfolge Anspruch auf die Hälfte des Nachlasses gehabt. Da er jedoch nur 10 % des Nachlasses erhält, steht ihm ein Zusatzpflichtteil zu. Dieser entspricht der Differenz zwischen seinem Pflichtteil (25 % des Nachlasses) und dem ihm zugewiesenen Erbteil (10 %). Der Zusatzpflichtteil beträgt somit 15 % des Nachlasswertes.
Wie wird der Zusatzpflichtteil geltend gemacht?
Der Zusatzpflichtteil ist ein eigenständiger Anspruch, den der benachteiligte Erbe gegenüber den übrigen Miterben geltend machen kann. Dieser Anspruch entsteht automatisch mit dem Erbfall, sobald feststeht, dass der Erbe weniger als seinen Pflichtteil erhält. Der Anspruch richtet sich gegen die Miterben und ist im Rahmen der Erbauseinandersetzung durchzusetzen. Es ist ratsam, den Zusatzpflichtteil so früh wie möglich geltend zu machen, um keine Fristen zu versäumen.
Beispiel 2: Geltendmachung des Zusatzpflichtteils
Nehmen wir an, der Sohn S aus dem obigen Beispiel erfährt, dass der Nachlass 200.000 € beträgt. Sein ihm zustehender Pflichtteil würde 50.000 € betragen. Da ihm jedoch nur 20.000 € zugeteilt wurden, kann er von seiner Schwester T, die den Großteil des Nachlasses erhalten hat, den Differenzbetrag von 30.000 € als Zusatzpflichtteil verlangen.
Besonderheiten bei belasteten Erben
In manchen Fällen kann es vorkommen, dass ein Erbe nicht nur unzureichend bedacht, sondern auch mit bestimmten Auflagen oder Beschränkungen belastet wird. Diese Situationen erfordern besondere Aufmerksamkeit, da der Erbe wählen muss, ob er die Erbschaft annimmt und den Zusatzpflichtteil geltend macht, oder ob er die Erbschaft ausschlägt und stattdessen den vollen Pflichtteil fordert.
Beispiel 3: Der belastete Erbe
Ein verwitweter Erblasser setzt seinen Sohn S zu einem Viertel und seine Lebensgefährtin L zu drei Vierteln als Erben ein. Gleichzeitig vermacht er seinem Freund F 20.000 €. Der Gesamtnachlass beträgt 100.000 €. S hätte nach der gesetzlichen Erbfolge Anspruch auf den gesamten Nachlass. Sein Pflichtteil beträgt 50.000 €. Da ihm jedoch nur 25.000 € zugewiesen werden und sein Erbteil durch das Vermächtnis belastet ist, kann er wählen: Entweder nimmt er die Erbschaft an und akzeptiert den Zusatzpflichtteil von 25.000 €, oder er schlägt die Erbschaft aus und fordert seinen vollen Pflichtteil von 50.000 €.
Der Zusatzpflichtteil des Ehegatten bei Zugewinngemeinschaft
Besonders relevant wird der Zusatzpflichtteil für Ehegatten, die im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft gelebt haben. Ist der hinterlassene Erbteil kleiner als der sogenannte „große Pflichtteil“, der sich nach dem erhöhten Erbteil gemäß § 1371 Abs. 1 BGB richtet, so kann der Ehegatte den Zusatzpflichtteil verlangen. Der Zusatzpflichtteil entspricht hier der Differenz zwischen dem Wert des großen Pflichtteils und dem Wert des ihm hinterlassenen Erbteils.
Beispiel 4: Der Ehegatte in der Zugewinngemeinschaft
Ein Ehepaar lebt im Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Nach dem Tod des Ehemannes beträgt der Nachlass 300.000 €. Der gesetzliche Erbteil der Ehefrau würde sich aufgrund des Zugewinnausgleichs auf 150.000 € belaufen. Wird der Ehefrau jedoch nur ein Erbteil von 100.000 € hinterlassen, so kann sie einen Zusatzpflichtteil von 50.000 € fordern, um ihren großen Pflichtteil zu erreichen.
Schenkungen unter Nießbrauchsvorbehalt
Bei Schenkungen unter Nießbrauchsvorbehalt behält sich der Erblasser das Recht vor, das geschenkte Gut weiterhin zu nutzen. Dies ist häufig bei Immobilien der Fall, wo sich der Schenker ein Wohnrecht oder den Nießbrauch vorbehält. In solchen Fällen wird der Wert der Schenkung um den Wert des Nießbrauchs reduziert (§ 2325 Abs. 2 BGB).
Beispiel
Der Erblasser überträgt eine Immobilie im Wert von 300.000 € an seine Tochter, behält sich jedoch ein lebenslanges Wohnrecht vor, das 100.000 € wert ist. Für die Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs wird nur der Restwert der Immobilie von 200.000 € berücksichtigt.
Der Zusatzpflichtteil für Vermächtnisnehmer
Auch ein pflichtteilsberechtigter Vermächtnisnehmer kann einen Zusatzpflichtteil geltend machen, wenn der Wert des Vermächtnisses geringer ist als sein Pflichtteil. Der Vermächtnisnehmer hat hierbei die Wahl, das Vermächtnis auszuschlagen und den vollen Pflichtteil zu verlangen, oder das Vermächtnis anzunehmen und die Differenz als Zusatzpflichtteil einzufordern.
Beispiel 5: Der vermächtnisbedachte Pflichtteilsberechtigte
Ein Erblasser vermacht seiner Tochter T 20.000 €, obwohl ihr Pflichtteil 50.000 € betragen würde. T kann das Vermächtnis annehmen und zusätzlich den Differenzbetrag von 30.000 € als Zusatzpflichtteil verlangen, um ihren Pflichtteil vollständig zu erhalten.
Verjährung des Zusatzpflichtteils
Wie bei allen Pflichtteilsansprüchen unterliegt auch der Zusatzpflichtteil der Verjährung. Die Verjährungsfrist beträgt drei Jahre und beginnt am Ende des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, also mit dem Erbfall. Wichtig ist, dass der Beginn der Verjährung nicht hinausgeschoben wird, bis der Nachlass geteilt oder die Erbschaft auseinandergesetzt wurde. Daher sollte der Zusatzpflichtteil rechtzeitig geltend gemacht werden, um den Anspruch nicht zu verlieren
Beispiel 6: Verjährung des Zusatzpflichtteils
Stellen Sie sich vor, der Erblasser stirbt im Jahr 2021. Der pflichtteilsberechtigte Erbe erfährt im gleichen Jahr von seinem unzureichenden Erbteil. Die Verjährungsfrist für seinen Zusatzpflichtteil beginnt somit am 31. Dezember 2021 und endet am 31. Dezember 2024. Versäumt es der Erbe, innerhalb dieser Frist seinen Anspruch geltend zu machen, verliert er sein Recht auf den Zusatzpflichtteil.
Wichtige Hinweise zur Geltendmachung des Zusatzpflichtteils
Die Geltendmachung des Zusatzpflichtteils erfordert eine sorgfältige Vorbereitung. Zunächst sollte der Nachlasswert ermittelt werden, um den genauen Pflichtteil zu berechnen. Dabei ist es oft notwendig, ein Nachlassverzeichnis zu erstellen und eventuell auch Gutachten einzuholen, um den Wert von Immobilien oder anderen Vermögensgegenständen festzustellen. Sobald der Pflichtteil berechnet ist, sollten Sie den Zusatzpflichtteil gegenüber den Miterben schriftlich geltend machen.
Beispiel 7: Geltendmachung des Zusatzpflichtteils
Ein Erbe E erhält von seinem Vater einen Erbteil im Wert von 60.000 €. Der Pflichtteil, den E beanspruchen könnte, liegt jedoch bei 100.000 €. Um den Zusatzpflichtteil von 40.000 € geltend zu machen, erstellt E ein Nachlassverzeichnis und fordert die Differenz von den anderen Erben schriftlich ein.
Tipps für die Praxis
In der Praxis empfehle ich, den Zusatzpflichtteil so früh wie möglich geltend zu machen. Auch wenn der Anspruch erst nach der Erbauseinandersetzung realisiert werden kann, sollten Sie rechtzeitig rechtliche Schritte einleiten, um Ihre Ansprüche zu sichern. Bei drohender Verjährung kann es notwendig sein, eine Feststellungsklage zu erheben oder andere Maßnahmen zur Hemmung der Verjährung zu ergreifen.
Beispiel 8: Verjährung droht
Ein Erbe bemerkt kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist, dass sein Zusatzpflichtteil noch nicht geltend gemacht wurde. Um den Anspruch nicht zu verlieren, erhebt er eine Feststellungsklage und hemmt damit die Verjährung.
Zusammenfassung
Der Zusatzpflichtteil ist ein zentraler Anspruch im Erbrecht, der sicherstellt, dass pflichtteilsberechtigte Erben nicht schlechter gestellt werden als enterbte Erben. Durch den Zusatzpflichtteil können unzureichend bedachte Erben den Wert ihres Pflichtteils vollständig ausschöpfen. Es ist wichtig, diesen Anspruch rechtzeitig und sorgfältig geltend zu machen, um keine rechtlichen Nachteile zu erleiden.
Wenn Sie sich in einer Situation befinden, in der Sie möglicherweise einen Zusatzpflichtteil beanspruchen können, zögern Sie nicht, rechtlichen Rat einzuholen. Ein Fachanwalt für Erbrecht kann Ihnen dabei helfen, den Nachlass zu bewerten, Ihre Ansprüche korrekt zu berechnen und diese erfolgreich durchzusetzen. So stellen Sie sicher, dass Ihre Rechte als Erbe gewahrt bleiben und Sie den Anteil am Nachlass erhalten, der Ihnen zusteht.
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