Kann der Pflichtteil zu Lebzeiten gefordert werden? Nein. Ein Anspruch, den Pflichtteil am Erbe zu Lebzeiten auszuzahlen, gibt es nicht. Der Pflichtteilsanspruch entsteht nach dem Erbrecht erst mit dem Tod des Erblassers ein, also im Erbfall.
Trotzdem können Pflichtteilsberechtigte und der zukünftige Erblasser durch Verträge andere Lösungen finden, um sich den Pflichtteil, der erst in Zukunft entsteht, bereits zu Lebzeiten auszahlen zu lassen. Die Frage, ob und wie der Pflichtteil bereits zu Lebzeiten des Erblassers ausgezahlt werden kann, gewinnt zunehmend an Bedeutung. Dieser Beitrag beleuchtet umfassend, ob der Pflichtteil zu Lebzeiten gefordert werden kann, wann eine vorzeitige Auszahlung sinnvoll ist, wie eine solche Auszahlung vereinbart wird und welche gesetzlichen Vorschriften dabei zu beachten sind.
Das Wichtigste in Kürze
Es gibt keine Möglichkeit, den Pflichtteil bereits zu Lebzeiten des Erblassers einseitig zu fordern oder einzuklagen! Jedoch können der zukünftige Erblasser und der Pflichtteilsberechtigte den späteren Pflichtteil durch Vertrag vorzeitig regeln und “erfüllen”:
- Pflichtteilsverzichtsvertrag: Durch einen solchen Vertrag gem. § 2346 BGB kann der Pflichtteilsanspruch einvernehmlich modifiziert oder aufgehoben werden. Als Gegenleistung für den Verzicht erhält der Pflichtteilsberechtigte in der Regel eine Geldabfindung.
- Schenkungsvertrag (§ 516 BGB): Der Erblasser kann Vermögensgegenstände auf den Pflichtteilsberechtigten übertragen und festlegen, dass der Wert auf den Pflichtteil angerechnet wird. Es ist sogar möglich, Ausgleichung und Anrechnung kumulativ anzuordnen.
In beiden Fällen handelt es sich um eine einvernehmliche Einigung von Erblasser und Pflichtteilsberechtigtem.
Kann der Pflichtteil zu Lebzeiten gefordert werden?
Rechtlich entsteht der Anspruch auf den Pflichtteil vom Erbe erst mit dem Tod des Erblassers und ist aus dem Nachlass zu erfüllen. Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) sieht in § 2303 vor, dass bestimmte nahe Angehörige, auch bei Enterbung, einen Pflichtteil am Erbe erhalten. Zu Lebzeiten des Erblassers besteht dieser Anspruch jedoch nicht, da der Pflichtteil erst mit dem Erbfall entsteht. Folglich kann der Pflichtteil nicht im klassischen Sinne zu Lebzeiten des Erblassers gefordert werden, dies sieht das Erbrecht nicht vor.
Wann macht eine vorzeitige Auszahlung des Pflichtteils Sinn?
Obwohl der Pflichtteil nach dem Erbrecht erst mit dem Tod des Erblassers entsteht, kann eine vorzeitige Gewährung vor dem Erbfall aus verschiedenen Gründen sinnvoll sein.
Finanzielle Bedürfnisse
Nahe Angehörige, insbesondere Kinder, könnten sich in einer schwierigen finanziellen Lage befinden oder Geld für ihr Eigenheim benötigen. Den Pflichtteil vorzeitig auszuzahlen kann hier eine willkommene Unterstützung darstellen. In solchen Fällen kann der Erblasser den Wunsch haben, durch eine vorzeitige Zahlung zu helfen, ohne dass der Pflichtteilsberechtigte bis zum Erbfall auf seinen Teil am Nachlass warten muss. Der Pflichtteilsberechtigte erhält schnell Geld und der Erblasser bekommt seine Testierfreiheit über seinen Nachlass zurück. Er muss auf den abgefundenen Pflichtteilsberechtigten bei der Gestaltung seines Nachlasses durch Testament oder Erbvertrag keine Rücksicht mehr nehmen.
Vorbeugung von Erbstreitigkeiten
Erbstreitigkeiten innerhalb der Familie um die Erbschaft sind keine Seltenheit. Eine vorzeitige Auszahlung des Pflichtteils kann Klarheit schaffen und potenzielle Konflikte unter den Erben verhindern. Indem der Erblasser zu Lebzeiten Regelungen trifft, kann er dazu beitragen, dass die Erbfolge reibungslos verläuft und Unstimmigkeiten in der Erbengemeinschaft vermieden werden. Er erspart seinen künftigen Erben lästige Auskunfts- und Zahlungsansprüche des Pflichtteilsberechtigten.
Steuerliche Überlegungen
Erbschafts- und Schenkungssteuern sind ein weiterer Faktor, der dafürsprechen kann, den Pflichtteil zu Lebzeiten auszuzahlen. Durch geschickte steuerliche Planung und die Nutzung von Freibeträgen kann die Steuerlast für die Erben reduziert werden. Insbesondere bei größeren Vermögen kann dies ein entscheidender Vorteil sein, um den potentiellen Nachlass schon vor dem Erbfall sukzessive zu übertragen.
Persönliche Gründe des Erblassers
Manchmal hat der Erblasser persönliche Gründe, warum er einen Teil seines Vermögens bereits vor seinem Tod weitergeben möchte. Dies kann aus dem Wunsch resultieren, zu Lebzeiten zu sehen, wie sein Vermögen genutzt wird. Der Erblasser kann so sicherstellen, dass das Geld nach seinen Vorstellungen verwendet wird.
Wie vereinbart man eine vorzeitige Auszahlung des Pflichtteils?
Da der Pflichtteil nach dem Erbrecht erst mit dem Tod des Erblassers entsteht, ist eine vorzeitige Auszahlung nur durch eine vertragliche Vereinbarung möglich. Diese muss sorgfältig gestaltet werden, um rechtliche und steuerliche Fallstricke zu vermeiden.
Vertragliche Grundlagen
Die Vereinbarung einer vorzeitigen Abgeltung des Pflichtteilsanspruch erfolgt im Erbrecht in der Regel durch einen Schenkungsvertrag oder einen Pflichtteilsverzichtsvertrag. Im Schenkungsvertrag verpflichtet sich der Erblasser, einen Teil seines Vermögens zu übertragen. Diese Schenkung kann mit Auflagen oder Bedingungen verbunden sein, die den Erblasser absichern.
Vorweggenommene Erbfolge
Die vorweggenommene Erbfolge stellt eine Möglichkeit dar, Vermögen bereits zu Lebzeiten zu übertragen. Dabei kann der Erblasser beispielsweise Immobilien oder Unternehmensanteile an seine potenziellen Erben übertragen. Es ist möglich, dass der Empfänger im Gegenzug auf seinen zukünftigen Anspruch auf einen Pflichtteil vom Erbe verzichtet. Dieser Pflichtteilsverzicht muss notariell beurkundet werden, um rechtswirksam zu sein. (§ 2346 BGB) Ohne Einhaltung der Form ist der Pflichtteilsverzicht und mit ihm möglicherweise auch das gesamte Rechtsgeschäft rechtlich nicht bindend (nichtig). Die notarielle Form dient dazu, einen späteren Streit um das Erbe zwischen Pflichtteilsberechtigtem und Erben nach Eintritt des Erbfalls zu vermeiden.
Was kann inhaltlich gestaltet werden, was ist zu beachten
Grundsätzlich sind der künftige Erblasser und der Pflichtteilsberechtigte in der inhaltlichen Gestaltung Ihrer Vereinbarung frei.
- Der Verzicht des Pflichtteilsberechtigten kann vollumfassend, aber auch gegenständlich beschränkt sein. Dies betrifft insbesondere Vermögensübertragungen durch den Erblasser an Abkömmlinge, bei denen dessen Geschwister auf die Berücksichtigung des übertragenen Vermögens (z.B. einer Immobilie oder eines Unternehmens) bei ihrem eigenen Pflichtteils- oder Pflichtteilsergänzungsanspruch verzichten. So lassen Sich spätere Streitigkeiten unter den Erben wegen erfolgter Übertragungen in vorweggenommener Erbfolge vermeiden.
- Bei der Höhe der Abfindung, die der Pflichtteilsberechtigte vom Erblasser für den Verzicht auf seinen Anspruch erhält, ist zu beachten, dass Erb- und Pflichtteilsverzichtsverträge der gerichtlichen Inhaltskontrolle unterliegen. Stellt ein Gericht später ein auffälliges Missverhältnis zu Lasten des Verzichtenden fest, kann dies die Sittenwidrigkeit und damit Unwirksamkeit des Verzichts zur Folge haben. Der Pflichtteilsberechtigte kann dann von den Erben seinen Pflichtteil vom Erbe verlangen.
Schritt für Schritt erklärt
Pflichtteilsverzichtsvertrag: Dies ist die häufigste Gestaltungsform, um den Pflichtteil vorzeitig zu regeln.
- Der Vertrag muss vor einem Notar abgeschlossen werden.
- Der Pflichtteilsberechtigte verzichtet auf sein Pflichtteilsrecht und erhält als Gegenleistung eine vereinbarte Abfindung.
- Die Höhe der Abfindung ist frei verhandelbar.
- Eine mögliche Beschränkung des Verzichts auf den Ergänzungs- oder Zusatzpflichtteil ist ebenfalls möglich.
- Die Vertragsparteien müssen sich einig sein, sonst wird kein Vertrag geschlossen.
Schenkungsvertrag: Durch lebzeitige Schenkungen können Pflichtteilsansprüche reduziert werden.
- Der Erblasser überträgt Vermögensgegenstände auf den Pflichtteilsberechtigten und bestimmt, dass der Wert auf den Pflichtteil angerechnet wird.
- Eine schriftliche und ausdrückliche Regelung ist erforderlich.
- Der Pflichtteilsberechtigte muss gegebenenfalls Schenkungsteuer zahlen, wenn die Freibeträge überschritten werden.
Pflichtteil durch lebzeitige Schenkungen reduzieren
Pflichtteilsberechtigte müssen sich lebzeitige Zuwendungen des Erblassers nur in zwei Fällen auf ihren Pflichtteil anrechnen lassen:
- Ordentlicher Pflichtteilsanspruch: Alle Zuwendungen werden angerechnet, wenn der Erblasser dies vor oder bei der Schenkung angeordnet hat.
- Pflichtteilsergänzungsanspruch: Alle Geschenke, die der Pflichtteilsberechtigte vom Erblasser erhielt, werden berücksichtigt. Bei angeordneter Anrechnung wird der Wert des Geschenks auf den Gesamtpflichtteil (Pflichtteil und Ergänzung) angerechnet.Oft wird eine Anrechnungsbestimmung vergessen oder ist nicht nachweisbar. Deshalb sollte im Schenkungsvertrag ausdrücklich und schriftlich festgehalten werden, ob und in welcher Höhe der Wert des Geschenks auf den Pflichtteil angerechnet wird.
Wichtig!
Eine nachträgliche Anrechnungsvereinbarung stellt einen Pflichtteilsverzicht dar und bedarf zwingend der notariellen Beurkundung, insbesondere wenn der Anrechnungsbetrag den Wert des Geschenks übersteigt. Eine nachträgliche Anrechnung zulasten eines Pflichtteilsberechtigten kann nicht in einem Testament oder Erbvertrag angeordnet werden.
Gesetzliche Vorschriften und ihre Bedeutung
Bei der vorzeitigen Auszahlung des Pflichtteils sind verschiedene gesetzliche Vorschriften aus dem Erbrecht zu beachten. Diese sorgen dafür, dass sowohl der Erblasser als auch der Pflichtteilsberechtigte rechtlich abgesichert sind.
§ 2303 BGB – Pflichtteilsanspruch
2303 BGB regelt den Pflichtteilsanspruch. Dieser entsteht erst mit dem Tod des Erblassers und gewährt bestimmten nahen Angehörigen einen Mindestanteil am Erbe. Die Vorschrift legt fest, dass Kinder, Ehegatten und Eltern des Erblassers grundsätzlich pflichtteilsberechtigt sind, wenn sie durch ein Testament oder einen Erbvertrag enterbt wurden.
§ 2348 BGB – Pflichtteilsverzicht
2348 BGB regelt den Pflichtteilsverzicht. Der Pflichtteilsverzicht ist eine notarielle Vereinbarung, in der der Pflichtteilsberechtigte darauf verzichtet, dass sein Pflichtteil am Erbe an ihn ausgezahlt wird. Ein solcher Verzicht kann in Zusammenhang mit einer vorzeitigen Auszahlung eines Teils des Nachlasses vereinbart werden. So wird sichergestellt, dass der Verzicht rechtlich bindend ist und spätere Ansprüche ausgeschlossen sind.
§§ 516 ff. BGB – Schenkung
Die Vorschriften über die Schenkung (§§ 516 ff. BGB) spielen eine wichtige Rolle bei der vorzeitigen Auszahlung des Pflichtteils. Eine Schenkung ist eine unentgeltliche Zuwendung, durch die jemand aus seinem Vermögen einen anderen bereichert. Bei der vorzeitigen Auszahlung des Pflichtteils vom Erbe kann es sich rechtlich um eine Schenkung handeln. Die Schenkung unterliegt bestimmten Bedingungen und kann unter bestimmten Umständen widerrufen werden (§ 528 BGB – Rückforderung wegen Verarmung des Schenkers).
§§ 2325 ff. BGB – Pflichtteilsergänzungsanspruch
Der Pflichtteilsergänzungsanspruch nach §§ 2325 ff. BGB schützt die Pflichtteilsberechtigten, wenn der Erblasser zu Lebzeiten große Teile seines Vermögens verschenkt und so seine Erbschaft reduziert hat. Wenn der Erblasser innerhalb von zehn Jahren nach der Schenkung verstirbt, wird die Schenkung dem Nachlass hinzugerechnet. Der Pflichtteilsberechtigte kann dann seinen Pflichtteil vom Erbe auf Basis des erhöhten Nachlasswertes berechnen lassen.
Steuerrechtliche Vorschriften
Neben den erbrechtlichen Regelungen sind auch steuerrechtliche Vorschriften relevant. Insbesondere die Erbschaft- und Schenkungsteuer spielt eine Rolle. Der Pflichtteilsberechtigte und der Erblasser sollten die Freibeträge und Steuerklassen berücksichtigen, um unnötige Steuerbelastungen zu vermeiden. Die Freibeträge können alle zehn Jahre neu genutzt werden (§ 14 ErbStG).
Praktische Beispiele
Zur Veranschaulichung der theoretischen Ausführungen ist es hilfreich, einige praktische Beispiele und Fallstudien zu betrachten.
Beispiel 1: Vorzeitige Auszahlung zur Vermeidung von Erbstreitigkeiten
Ein Erblasser hat drei Kinder, von denen eines bereits frühzeitig hohe finanzielle Zuwendungen erhalten hat. Um spätere Streitigkeiten zu vermeiden, entscheidet er sich, dem begünstigten Kind den Pflichtteil vorzeitig auszuzahlen. Die anderen Kinder werden im Testament entsprechend bedacht. Eine notarielle Vereinbarung stellt sicher, dass das begünstigte Kind auf weitere Pflichtteilsansprüche aus dem Erbe verzichtet.
Beispiel 2: Steuerliche Optimierung durch vorzeitige Auszahlung
Ein Erblasser besitzt ein großes Vermögen, das hauptsächlich aus Immobilien besteht. Um die Erbschaftssteuer zu minimieren, beschließt er, einen Teil seines Vermögens bereits zu Lebzeiten auf seine Kinder zu übertragen. Dies erfolgt im Rahmen einer Schenkung, wobei die Steuerfreibeträge geschickt genutzt werden. In der Vereinbarung zur Übertragung der Immobilien verzichten die Kinder gegenseitig auf die Geltendmachung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs für die übertragenen Immobilien.
Was tun, wenn keine Einigung möglich ist?
Kommt es zu keiner Einigung zwischen dem Erblasser und dem Pflichtteilsberechtigten, kann dieser nichts tun und muss auf den Erbfall warten. Es ist ratsam, Unterlagen und Informationen über den Nachlass zu sammeln. Dies hilft nach Eintritt des Erbfalls bei der Durchsetzung von Pflichtteilsansprüchen und Pflichtteilsergänzungsansprüchen.
Die Nachholung einer Anrechnungsbestimmung bei einer Schenkung ist nicht möglich. Jedoch kann der Erblasser sein Vermögen geschickt gestalten, um den Pflichtteil zu reduzieren.
Insgesamt bieten Pflichtteilsverzichtsverträge und Schenkungsverträge rechtliche Möglichkeiten, den späteren Pflichtteil vorzeitig zu regeln und somit Konflikte im Erbfall zu vermeiden. Als Fachanwalt für Erbrecht kann ich SIe hierbei beraten.
Fazit
Die vorzeitige Gewährung des Pflichtteils zu Lebzeiten ist eine komplexe Angelegenheit im Erbrecht, die sorgfältige Planung und umfassende rechtliche Beratung, idealerweise durch einen Fachanwalt für Erbrecht erfordert. Den Pflichtteil vorab auszuzahlen kann in bestimmten Situationen sinnvoll sein, um finanzielle Engpässe zu überwinden, Streitigkeiten unter den Erben zu vermeiden oder steuerliche Vorteile bei der Übertragung der Erbschaft zu nutzen. Es ist jedoch wichtig, die rechtlichen Rahmenbedingungen zu beachten und sicherzustellen, dass alle Beteiligten einvernehmlich handeln. Nur so lassen sich spätere Konflikte und rechtliche Probleme vermeiden.
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