In einem aktuellen Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt (Beschluss vom 24. Juli 2024 – 21 W 146/23) hat das Gericht über den Fall einer Anfechtung einer Erbausschlagung wegen Irrtums über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses entschieden. Diese Entscheidung ist relevant für Erben, die eine Erbschaft zunächst ausschlagen, sich dabei aber über die tatsächliche Zusammensetzung des Nachlasses im Irrtum befinden. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt behandelt die Frage, wann es zulässig ist, eine Erbausschlagung anzufechten und welche Kriterien dabei zu beachten sind.
1. Ausgangspunkt des Falls
Die Erblasserin verstarb im Jahr 2021 ohne ein Testament zu hinterlassen. Die Beteiligte zu 1), ihre Tochter, entschied sich nach Kenntnis des Todes ihrer Mutter dazu, das Erbe auszuschlagen. Dies begründete sie mit der Annahme, dass der Nachlass ihrer Mutter überschuldet sei und keine werthaltigen Vermögenswerte enthalte. Diese Annahme beruhte vor allem auf Informationen, die sie von der Polizei sowie aus eigenen Recherchen über die Lebensumstände ihrer Mutter erhielt. Besonders ausschlaggebend war für die Beteiligte zu 1), die über viele Jahre keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter hatte, dass die Lebensumstände der Mutter den Eindruck erweckten, sie hätte in prekären Verhältnissen gelebt. Sie war sich sicher, dass ihre Mutter, die aufgrund von Alkoholproblemen in einem schlechten sozialen Umfeld gelebt hatte, kein Vermögen hinterlassen habe. Aus diesem Grund entschied sie sich, das Erbe auszuschlagen.
2. Die Entdeckung des Irrtums
Erst durch ein Schreiben des gerichtlich eingesetzten Nachlasspflegers, das sie einige Monate nach der Ausschlagung erhielt, erfuhr die Beteiligte zu 1) von der tatsächlichen Zusammensetzung des Nachlasses. Es stellte sich heraus, dass neben Mietschulden und Bestattungskosten auch ein Girokonto sowie ein Sparbuch mit einem Guthaben von über 70.000 € zum Nachlass gehörten. Diese Informationen kamen für die Beteiligte zu 1) überraschend, da sie fest davon ausgegangen war, dass der Nachlass überschuldet sei und keine werthaltigen Vermögenswerte enthalte.
Infolgedessen entschied sie sich, die Erbausschlagung anzufechten. Sie argumentierte, dass sie bei Abgabe ihrer Ausschlagungserklärung im Irrtum über die wesentlichen Vermögenswerte des Nachlasses gewesen sei. Insbesondere sei ihr das erhebliche Guthaben auf den Konten nicht bekannt gewesen.
3. Juristische Voraussetzungen für die Anfechtung einer Erbausschlagung
Die Anfechtung einer Erbausschlagung ist nach § 1954 BGB möglich, wenn die Ausschlagung auf einem Irrtum beruht. Hierbei ist § 119 Abs. 2 BGB entscheidend, der regelt, dass ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Sache zur Anfechtung berechtigt. Im Erbrecht bedeutet dies, dass ein Irrtum über den Bestand des Nachlasses, insbesondere über das Vorhandensein von Aktiva oder Passiva, als Anfechtungsgrund in Betracht kommt.
Allerdings stellt die bloße Fehlvorstellung über den Wert des Nachlasses keinen Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft dar. Der Wert des Nachlasses selbst ist nämlich kein “Eigenschaft” im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB. Es kommt vielmehr darauf an, ob der Erbe sich in seiner Vorstellung über die konkrete Zusammensetzung des Nachlasses geirrt hat. Ein Irrtum kann etwa darin bestehen, dass der Erbe davon ausgeht, der Nachlass sei überschuldet, obwohl tatsächlich Vermögen vorhanden ist.
Im vorliegenden Fall machte die Beteiligte zu 1) geltend, dass sie bei der Ausschlagung fälschlicherweise davon ausgegangen sei, dass der Nachlass ihrer Mutter nur aus Schulden bestehe. Da sie durch das Schreiben des Nachlasspflegers erfuhr, dass dies nicht der Fall war und tatsächlich ein beträchtliches Vermögen vorhanden war, erklärte sie die Anfechtung ihrer Ausschlagungserklärung.
4. Die Entscheidung des Gerichts
Das OLG Frankfurt entschied, dass die Anfechtung der Erbausschlagung in diesem Fall zulässig war. Das Gericht stellte fest, dass sich die Beteiligte zu 1) im Zeitpunkt der Ausschlagungserklärung in einem Irrtum über die Zusammensetzung des Nachlasses befunden hatte. Insbesondere hatte sie irrtümlich angenommen, dass der Nachlass ausschließlich aus Schulden bestehe und keinerlei werthaltige Vermögenswerte enthalte. Dies war jedoch objektiv falsch, wie sich aus den späteren Feststellungen des Nachlasspflegers ergab.
Das Gericht argumentierte, dass dieser Irrtum über die Vermögensverhältnisse des Nachlasses eine verkehrswesentliche Eigenschaft im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB darstellt. Die Zusammensetzung des Nachlasses, also die Frage, ob Aktiva oder Passiva vorhanden sind, ist eine wesentliche Eigenschaft, über die ein Erbe Kenntnis haben muss, um eine fundierte Entscheidung über die Annahme oder Ausschlagung des Erbes treffen zu können.
Da die Beteiligte zu 1) bei Abgabe ihrer Ausschlagungserklärung im Irrtum über die wesentliche Zusammensetzung des Nachlasses war, war die Anfechtung der Ausschlagungserklärung zulässig. Dieser Irrtum war kausal für die Entscheidung, das Erbe auszuschlagen. Hätte sie von dem Guthaben gewusst, hätte sie die Erbschaft nicht ausgeschlagen.
5. Wichtige Überlegungen bei der Anfechtung einer Erbausschlagung
Dieser Fall zeigt, dass die Anfechtung einer Erbausschlagung dann erfolgreich sein kann, wenn der Erbe im Zeitpunkt der Ausschlagung in einem Irrtum über die Zusammensetzung des Nachlasses befand. Es reicht jedoch nicht aus, lediglich eine falsche Vorstellung über den Wert des Nachlasses zu haben. Der Irrtum muss sich auf die konkreten Vermögensgegenstände oder Schulden des Nachlasses beziehen.
Ein Irrtum über die Frage, ob der Nachlass überschuldet ist oder ob Vermögenswerte vorhanden sind, kann als ein solcher Irrtum gewertet werden. Für Erben, die eine Erbausschlagung anfechten möchten, ist es daher wichtig, nachzuweisen, dass der Irrtum über die Zusammensetzung des Nachlasses kausal für die Ausschlagung war.
6. Bedeutung der Entscheidung für die Praxis
Die Entscheidung des OLG Frankfurt konkretisiert die Anforderungen an den Inhalt des Irrtums und ist daher hilfreich für die Praxis. Sie verdeutlicht, dass Erben gut beraten sind, sich vor der Ausschlagung eines Erbes umfassend über die Zusammensetzung des Nachlasses zu informieren. Eine voreilige Erbausschlagung kann finanzielle Nachteile nach sich ziehen, insbesondere wenn sich später herausstellt, dass der Nachlass doch wertvolle Vermögensgegenstände enthält.
Die Möglichkeit, eine Erbausschlagung anzufechten, ist zwar gegeben, doch die Hürden sind hoch. Der Irrtum muss sich auf eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses beziehen und kausal für die Ausschlagung sein. Zudem ist die Frist zur Anfechtung der Ausschlagung zu beachten. Diese beträgt sechs Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem der Irrtum bekannt wird.
Fazit von Fachanwalt für Erbrecht Mathias Nittel
Die Entscheidung des OLG Frankfurt bietet wichtige Orientierungshilfen für Erben, die eine Erbausschlagung anfechten möchten. Es wird deutlich, dass die Anfechtung nur unter bestimmten Voraussetzungen erfolgreich ist. Ein bloßer Irrtum über den Wert des Nachlasses reicht nicht aus. Vielmehr muss der Irrtum die Zusammensetzung des Nachlasses betreffen.
Für Erben, die sich unsicher sind, ob sie das Erbe annehmen oder ausschlagen sollen, ist es ratsam, vorab eine genaue Prüfung des Nachlasses vorzunehmen. Dies kann durch Kontakt mit dem Nachlassgericht oder einem Nachlasspfleger erfolgen. Sollte sich nach der Ausschlagung herausstellen, dass der Nachlass doch Vermögenswerte enthält, kann die Anfechtung der Erbausschlagung eine Möglichkeit sein, das Erbe doch noch anzunehmen.
Im vorliegenden Fall war die Anfechtung erfolgreich, da die Beteiligte zu 1) glaubhaft machen konnte, dass sie sich im Zeitpunkt der Ausschlagung im Irrtum über die Vermögensverhältnisse des Nachlasses befand. Dieser Irrtum war kausal für ihre Entscheidung, das Erbe auszuschlagen.
Erben, die eine Erbausschlagung anfechten möchten, sollten sich rechtzeitig durch einen Fachanwalt für Erbrecht beraten lassen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Anfechtung erfolgreich ist und die Fristen eingehalten werden.