Der Pflichtteilsverzicht eines behinderten Sozialhilfeempfängers sorgte kürzlich für erhebliche rechtliche Auseinandersetzungen. Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hatte in seinem Urteil vom 9. November 2021 (Az. 10 U 19/21) über die Wirksamkeit eines solchen Verzichts zu entscheiden. Der Fall wirft wichtige Fragen zum Verhältnis von Pflichtteilsrecht und sozialrechtlichen Ansprüchen auf.
Der Fall: Behinderter Sohn verzichtet auf seinen Pflichtteil
Ein Ehepaar hatte zwei Söhne, von denen einer seit seiner Geburt im Jahr 1967 behindert war. Dieser behinderte Sohn lebte ab Anfang 2018 in einer Betreuungseinrichtung und erhielt dort Sozialhilfe in Form von stationärer Eingliederungshilfe und Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß §§ 53, 54 SGB XII. Diese Sozialhilfe betrug zuletzt 1.371,66 Euro monatlich.
Das Ehepaar errichtete am 29. August 1988 ein gemeinschaftliches Testament. Darin setzten sie sich gemäß § 2269 BGB gegenseitig als Alleinerben ein, wobei der zweite, nicht behinderte Sohn als Schlusserbe nach dem Tod des zuletzt verstorbenen Elternteils vorgesehen war.
Am 24. Februar 2017 verstarb der Vater, und die Mutter erbte den gesamten Nachlass. Ein Jahr später verkaufte die Mutter eine zum Nachlass gehörende Immobilie für 235.000 Euro. Am 11. Juni 2019 verzichtete der behinderte Sohn notariell gegenüber seiner Mutter auf jegliche ihm nach dem Tod seines Vaters zustehenden Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche gemäß §§ 2303, 2325 BGB.
Sozialhilfeträger fordert den Pflichtteil ein
Im Februar 2020 leitete der Sozialhilfeträger den Pflichtteilsanspruch des behinderten Sohnes gemäß §§ 141 SGB IX, 93 SGB XII auf sich über. Er wollte den Anspruch verwerten, um die für den behinderten Sohn erbrachten Sozialhilfeleistungen auszugleichen. Der Sozialhilfeträger forderte die Mutter auf, Auskunft über den Bestand und den Wert des Nachlasses zu geben, um den übergeleiteten Pflichtteilsanspruch beziffern zu können.
Die Mutter verwies jedoch auf den Pflichtteilsverzicht ihres Sohnes und verweigerte die geforderte Auskunft. Daraufhin zog der Sozialhilfeträger vor Gericht und argumentierte, dass der Pflichtteilsverzicht sittenwidrig und damit gemäß § 138 BGB unwirksam sei.
Unterschiedliche Beurteilungen durch die Gerichte
Das Landgericht folgte der Argumentation des Sozialhilfeträgers und gab der Klage auf Auskunft gemäß § 2314 BGB statt. Es stellte fest, dass der Pflichtteilsverzicht des behinderten Sohnes allein dazu diente, den Zugriff des Sozialhilfeträgers auf bereits entstandene, werthaltige Ansprüche zu verhindern. Damit sollte die Bedürftigkeit des Leistungsempfängers aufrechterhalten werden, was zu Lasten der Allgemeinheit gehe.
Die Mutter legte gegen dieses Urteil Berufung beim Oberlandesgericht Hamm ein. Das OLG entschied jedoch anders als das Landgericht und hob das Urteil auf. Es wies die Klage des Sozialhilfeträgers vollständig ab und erklärte den Pflichtteilsverzicht des behinderten Sohnes für wirksam.
Argumentation des Oberlandesgerichts Hamm
Das OLG Hamm stützte seine Entscheidung auf eine frühere Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 19. Januar 2011 (Az. IV ZR 7/10). Es stellte fest, dass der Pflichtteilsverzicht des behinderten Sohnes nicht gegen die guten Sitten verstoße und somit rechtlich wirksam sei.
Das Gericht verwies auf den sozialrechtlichen Nachranggrundsatz, wonach staatliche Hilfe gemäß § 2 SGB XII nur beansprucht werden kann, wenn die eigenen Einkünfte und das eigene Vermögen nicht ausreichen. Allerdings sei dieser Grundsatz im Sozialhilferecht nicht uneingeschränkt anwendbar. Das OLG betonte, dass es im Sozialhilferecht zahlreiche Ausnahmen gebe, bei denen der Staat nicht auf das Vermögen des Betroffenen zugreifen dürfe.
Schonvermögen und Unterhaltsansprüche
Das Gericht führte aus, dass der Gesetzgeber beispielsweise sogenanntes Schonvermögen gemäß § 90 SGB XII akzeptiere, auf das der Staat nicht zugreifen könne. Auch die Überleitung von Unterhaltsansprüchen von behinderten Menschen gegen ihre Eltern sei gemäß § 94 SGB XII nur in sehr begrenztem Umfang möglich. Diese Ausnahmen zeigten, dass das Subsidiaritätsprinzip im Sozialhilferecht nicht uneingeschränkt gelte.
Das OLG hob hervor, dass Familien, die behinderte Kinder versorgen und betreuen, ohnehin eine große Last tragen. In solchen Fällen sei es besonders wichtig, die Interessen der Erben und des behinderten Kindes angemessen zu berücksichtigen.
Keine Pflicht zum Erben oder Geltendmachen des Pflichtteils
Das OLG stellte klar, dass es keine gesetzliche Pflicht gebe, im Erbfall den Pflichtteil zu fordern oder ein Vermächtnis geltend zu machen. Der Verzicht auf den Pflichtteil sei eine individuelle Entscheidung, die nicht per se sittenwidrig sei. Insbesondere sei zu beachten, dass der Verzicht des behinderten Sohnes auch das Interesse der Mutter an einer angemessenen finanziellen Versorgung schütze.
Die Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes den gesamten Nachlass geerbt und war auf diesen angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Pflichtteilsverzicht ihres Sohnes trug dazu bei, ihre finanzielle Sicherheit zu gewährleisten.
Schlussfolgerung des Gerichts
Das OLG Hamm entschied, dass der Pflichtteilsverzicht des behinderten Sohnes wirksam sei und der Sozialhilfeträger keinen Anspruch auf den Pflichtteil habe. Die Überleitung des Pflichtteilsanspruchs durch den Sozialhilfeträger war somit ins Leere gelaufen.
Diese Entscheidung zeigt, dass das Sozialhilferecht zwar darauf abzielt, staatliche Leistungen nur im Rahmen der Notwendigkeit zu gewähren, gleichzeitig aber auch Ausnahmen und Schutzmechanismen für besonders belastete Familien vorsieht. Der Pflichtteilsverzicht ist in solchen Fällen kein Automatismus, der als sittenwidrig anzusehen ist.
Fazit von Fachanwalt für Erbrecht Mathias Nittel
Das Urteil des Oberlandesgerichts Hamm verdeutlicht, dass ein behinderter Sozialhilfeempfänger wirksam auf seinen Pflichtteil verzichten kann, ohne dass dieser Verzicht automatisch sittenwidrig ist. Es gibt keine allgemeine Pflicht, den Pflichtteil einzufordern, selbst wenn dies zur Entlastung des Sozialhilfeträgers führen würde.
Erben sollten sich jedoch der rechtlichen Implikationen eines Pflichtteilsverzichts bewusst sein und bei Bedarf rechtlichen Rat einholen. Der Verzicht kann in bestimmten Fällen gerechtfertigt und wirksam sein, insbesondere wenn er im Interesse der finanziellen Absicherung der verbleibenden Familie erfolgt.
Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung eines ausgewogenen und differenzierten Ansatzes im Umgang mit Pflichtteilsansprüchen und Sozialhilferecht. Sie zeigt auch, dass der Schutz der Familie und die Berücksichtigung der individuellen Umstände bei der Beurteilung von Pflichtteilsverzichten eine wesentliche Rolle spielen sollten.