Pflichtteilsberechtigte und Vermächtnis: Ein Verzicht auf den Zusatzpflichtteil?

Das Oberlandesgericht (OLG) Celle (Urteil vom 29.07.2024 – 6 U 51/23) befasste sich kürzlich mit einem spannenden Fall im Erbrecht. Dabei ging es um die Frage, ob ein Pflichtteilsberechtigter, der ein Vermächtnis angenommen hat, damit automatisch auf seinen Zusatzpflichtteil verzichtet.

Der Hintergrund: Enterbung und Vermächtnis

Im Jahr 2020 verstarb ein wohlhabender Erblasser, der in zweiter Ehe verheiratet war und vier Kinder hatte. In seinem notariellen Testament von 2017 hatte er seine zweite Ehefrau als Alleinerbin eingesetzt. Damit waren seine Kinder enterbt. Der Erblasser hatte jedoch zugunsten seiner Kinder Vermächtnisse angeordnet, um ihnen dennoch einen Teil seines Vermögens zukommen zu lassen.

Die Kinder fordern das Vermächtnis ein

Nach dem Tod des Erblassers forderten zwei seiner Kinder das ihnen im Testament zugesprochene Vermächtnis bei der Alleinerbin ein. Diese zahlte jedem Kind 105.556,95 € aus. Nachdem sie das Vermächtnis erhalten hatten, machten die Kinder jedoch weitere Ansprüche geltend: Sie forderten von der Erbin den sogenannten Zusatzpflichtteil gemäß § 2307 BGB.

Der Zusatzpflichtteil nach § 2307 BGB

§ 2307 BGB besagt, dass ein Pflichtteilsberechtigter, der ein Vermächtnis erhält, den Pflichtteil verlangen kann, wenn er das Vermächtnis ausschlägt. Schlägt er nicht aus, steht ihm der Pflichtteil nur insoweit zu, wie der Wert des Vermächtnisses nicht reicht. Die Kinder zielten darauf ab, neben dem Vermächtnis auch den Zusatzpflichtteil zu erhalten. Dazu forderten sie die Erbin auf, ein notarielles Nachlassverzeichnis vorzulegen, um den Wert des Nachlasses zu ermitteln.

Streit um die Bewertung der Nachlassimmobilien

Die Erbin kam dieser Aufforderung nach und legte ein notarielles Nachlassverzeichnis vor. Die Kinder waren jedoch mit der Bewertung von fünf Nachlassimmobilien nicht einverstanden. Sie verlangten, dass die Erbin den Wert dieser Immobilien durch ein Gutachten eines unabhängigen Sachverständigen ermitteln lässt (§ 2314 Abs. 1 BGB). Die Erbin weigerte sich jedoch, ein solches Gutachten vorzulegen.

Klage auf Wertermittlung

Daraufhin klagten die Kinder gegen die Erbin, um die Erstellung des Gutachtens durchzusetzen. Das Landgericht wies die Klage jedoch ab und argumentierte, dass die Kinder durch die Annahme ihres Vermächtnisses stillschweigend auf weitergehende Pflichtteilsansprüche verzichtet hätten.

Berufung vor dem OLG Celle

Mit dieser Entscheidung wollten sich die Kinder nicht abfinden und legten Berufung beim OLG Celle ein. Das Oberlandesgericht hob die Entscheidung des Landgerichts auf und gab den Kindern Recht. Die Erbin wurde verurteilt, die geforderten Wertgutachten für die Nachlassimmobilien vorzulegen.

Kein Verzicht auf den Zusatzpflichtteil

Das OLG stellte klar, dass die Annahme eines stillschweigenden Verzichts auf den Pflichtteil nur unter strengen Voraussetzungen möglich ist. In diesem Fall hatten die Kinder zu keinem Zeitpunkt weder ausdrücklich noch konkludent auf ihren Pflichtteil verzichtet. Die Erbin konnte nicht beweisen, dass ein solcher Verzicht stattgefunden hatte.

Fazit von Fachanwalt für Erbrecht Mathias Nittel

Das Urteil des OLG Celle zeigt, dass Pflichtteilsberechtigte ihre Ansprüche sorgfältig prüfen sollten. Die Annahme eines Vermächtnisses bedeutet nicht automatisch, dass auf den Zusatzpflichtteil verzichtet wird. Ein stillschweigender Verzicht auf den Pflichtteil wird von den Gerichten nur in Ausnahmefällen angenommen. Pflichtteilsberechtigte sollten daher ihre Rechte kennen und im Zweifel rechtlichen Rat durch einen Fachanwalt für Erbrecht einholen, um keine Ansprüche zu verlieren.

Im Ergebnis musste die Erbin den Kindern die geforderten Wertgutachten vorlegen und anschließend den Zusatzpflichtteil auszahlen. Diese Entscheidung unterstreicht, wie wichtig es ist, bei Erbangelegenheiten genau zu prüfen, welche Rechte und Pflichten bestehen.

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