Die Testierfähigkeit des Erblassers ist ein zentraler Punkt im Erbrecht. In Streitfällen, in denen Zweifel an der Testierfähigkeit bestehen, kann die Einsicht in Patientenunterlagen entscheidend sein. Doch wann darf ein Gericht Krankenunterlagen anfordern, und wie verhält sich das zur ärztlichen Schweigepflicht? Das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 13.06.2024 – 10 W 3/23) hat nun klargestellt, dass im Zusammenhang mit der Prüfung der Testierfähigkeit Krankenunterlagen an das Nachlassgericht herauszugeben sind.
Testierfähigkeit und ihre Bedeutung
Die Testierfähigkeit bestimmt, ob jemand ein rechtswirksames Testament errichten kann. Nach § 2229 Abs. 4 BGB ist testierunfähig, wer wegen einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung seiner Willenserklärung zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln. Die Beweislast für die Testierunfähigkeit liegt bei demjenigen, der das Testament anfechten will.
Bleibt die Frage der Testierfähigkeit unaufklärbar, gilt das Testament als wirksam. Daher sind Beweise, wie etwa ärztliche Unterlagen, entscheidend.
Der Fall: Streit um die Testierfähigkeit
Im Jahr 1998 setzte eine Erblasserin in einem handschriftlichen Testament ihre Schwester als Alleinerbin ein. Kurz vor ihrem Tod errichtete sie ein notarielles Testament, das ihre Nichte und deren Kinder zu Erben erklärte. Die Schwester focht das notarielle Testament an, da sie die Erblasserin zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung für testierunfähig hielt.
Das zuständige Gericht verlangte Krankenunterlagen aus dem Krankenhaus, in dem die Erblasserin kurz vor ihrem Tod behandelt wurde. Der Krankenhausträger verweigerte die Herausgabe, da keine Schweigepflichtentbindung vorlag.
Gerichtliche Anordnung zur Vorlage von Krankenunterlagen
Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm entschied, dass der Krankenhausträger verpflichtet ist, die Unterlagen vorzulegen. Diese Entscheidung beruhte auf § 142 ZPO, der es Gerichten ermöglicht, Unterlagen von Dritten anzufordern. Auch im Erbscheinsverfahren gilt diese Regelung.
Das Gericht argumentierte, dass die ärztliche Schweigepflicht in diesem Fall der Wahrheitsfindung untergeordnet sei. Mit dem Tod der Erblasserin erlösche die Verfügungsbefugnis über ihre Geheimnisse. Zudem entspreche es dem mutmaßlichen Willen der Erblasserin, Zweifel an ihrer Testierfähigkeit auszuräumen.
Rechtsgrundlagen für die Anforderung von Unterlagen
§ 142 ZPO: Gerichtliche Anordnung zur Vorlage von Unterlagen
Nach § 142 ZPO kann ein Gericht die Vorlage von Unterlagen anordnen, wenn sie für die Entscheidungsfindung relevant sind. Dies umfasst auch Unterlagen von Dritten wie Ärzten oder Krankenhäusern. Voraussetzungen sind:
- Erforderlichkeit: Die Unterlagen müssen zur Klärung eines entscheidungserheblichen Sachverhalts beitragen.
- Verhältnismäßigkeit: Die Anordnung darf nicht übermäßig belastend für den Betroffenen sein.
Testierfähigkeit nach § 2229 BGB
Die Testierfähigkeit hängt von der geistigen Verfassung des Erblassers zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung ab. Zweifel daran rechtfertigen die Beiziehung von Krankenunterlagen, um die Testierfähigkeit durch Sachverständige zu beurteilen.
Schweigepflicht und Mutmaßlicher Wille
Die ärztliche Schweigepflicht gemäß § 203 StGB bleibt grundsätzlich auch nach dem Tod eines Patienten bestehen. Eine Offenlegung ist jedoch zulässig, wenn sie dem wohlverstandenen Interesse des Verstorbenen dient. Im Erbrecht wird regelmäßig vermutet, dass der Erblasser eine Klärung seiner Testierfähigkeit gewollt hätte.
Fazit von Fachanwalt Mathias Nittel
Die Einsicht in Krankenunterlagen spielt eine Schlüsselrolle, wenn die Testierfähigkeit des Erblassers in Frage steht. Gerichte können Ärzte und Krankenhausträger zur Herausgabe verpflichten, um eine Überprüfung der Testierfähigkeit des Erblassers zu ermöglichen. Die ärztliche Schweigepflicht tritt in solchen Fällen hinter das wohlverstandene Interesse des Verstorbenen zurück.
Ärzte und Krankenhausträger müssen gerichtlich angeordnete Herausgaben von Unterlagen befolgen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Verweigern sie ie Herausgabe ohne ausreichenden Grund, drohen Sanktionen wie Ordnungsgelder.
Wichtige Punkte für die Praxis:
- Klarheit über rechtliche Pflichten: Ärzte und Krankenhäuser sollten prüfen, ob eine gerichtliche Anordnung auf den mutmaßlichen Willen des Erblassers gestützt ist.
- Verhältnismäßigkeit wahren: Nur relevante Unterlagen sollten herausgegeben werden.
- Rechtsmittel prüfen: Bei unklaren Anordnungen können Rechtsmittel eingelegt werden.
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